Als Schreiadler muss man zuerst schlüpfen, ansonsten hat man in seinem Leben wahrlich sehr schlechte Karten. Für gewöhnlich legt ein Schreiadlerweibchen zwei Eier in ihr Nest, doch nur eines der beiden Jungen wird dieses lebendig verlassen. Der Grund dafür ist in einem Verhalten zu finden, für dessen Bezeichnung sich die Wissenschaft bei einer alttestamentarischen Geschichte der Bibel bediente. In dieser erschlägt der ältere Bruder Kain seinen jüngeren Bruder Abel. Der sogenannte Kainismus der Greifvögel hat aber wenig mit einen eifersüchtigen Verhalten zu tun, wie es Kain in der biblischen Geschichte an den Tag legte, sondern mit einer Art evolutionärer Absicherung, dass aus dem Gelege überhaupt ein Junges schlüpft. Möglich macht dies der zeitliche Abstand mit dem das zweite Junge schlüpft, so hat das ältere der beiden Geschwister ein bis zwei Tage Zeit, sich von seinen Eltern aufpäppeln zu lassen, um dann mit vollem Körpereinsatz dafür zu sorgen, dass es ein Einzelkind wird. Das jüngere der beiden Geschwister hat meistens keine Chance, sich gegen das aggressive Verhalten des älteren zu wehren und verendet.
Mit einem solchen Verhalten wird der kleine Schreiadler Rainer, wie der Protagonist in Clanga pomarina. Die Schreiadleroper heißt, nicht unbedingt auf Anhieb Sympathiepunkte sammeln, doch es ist die Evolution, die sein Verhalten bestimmt, und die Natur ist, wie man weiß oft sehr grausam, wenn man sie nach menschlichen Moralvorstellungen bewerten würde. Fressen und gefressen werden, ein ewiger Kreislauf und das Leben des Schreiadlers Rainer ist auch nur ein kleines Kapitel in der Geschichte des Universums. Dass die Schreiadler in diesem recht wenig Platz beanspruchen können, liegt an der geringen Population des vom Aussterben bedrohten Greifvogels, der in Deutschland nur noch in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg beheimatet ist. Mit etwas Glück kann man die Schreiadler in der Natur beobachten, ohne jegliche Suche im Vogelpark Marlow, wo ein Schreiadlerpaar in einer begehbaren Voliere ein behütetes Zuhause gefunden hat. Im Gegensatz zu ihren freilebenden Artgenossen, verenden sie nicht bei ihrem Flug nach Afrika an irgendwelchen Strommasten, in welchen einer der Gründe für die zurückgehende Populationsgröße der Art zu finden ist, den man auch Pommernadler nennt.
Das Leben des Schreiadlers Rainer ist alles andere als eine reine Fiktion, denn dieses beruht auf den Daten eines Senders mit dem ein in Vorpommern geschlüpfter Schreiadler ausgestattet wurde. Dank diesem konnten die Stationen seines Lebens durch die kreativen Köpfe der Opernale verfolgt werden, um aus den Eckdaten eine Geschichte zu stricken, welche aus der Perspektive des Vogels erzählt wird. Da Schreiadler von Natur aus scheu sind, werden ihn die Puppenspieler Heiki Ikkola und Sabine Köhler auf der Bühne vertreten, welche der ihn verkörpernden großen Puppe Leben einhauchen werden. Damit die Opernale ihrem Namen gerecht wird und die Schreiadleroper ein musikalischer Abend, wurde für die Vertonung von Henriette Sehmsdorfs Libretto Benjamin Saupe engagiert, welcher schon bei der Vertonung von Käthe, Alwine, Gudrun sein Talent bewies. Man kann gespannt sein, wie sich der Ruf des Schreiadlers in der Oper wiederfindet, die passend zum Charakter des Vogels recht minimalistisch sein und nur mit Hilfe eines Klaviers und mehrerer Flöten aufgeführt wird. Dem Stammpublikum der Opernale dürfte nur der Bariton Lars Grünwoldt etwas sagen, der schon seit Jahren zum Ensemble gehört.
Die Sopranistin Jacoba Arekhi und der Tenor Collin Andrè Schöning mit denen er auf der Bühne agiert, stehen noch relativ am Anfang ihrer Karrieren. Zumindest Jacoba Arekhi könnte man schon einmal gesehen haben, denn am Theater Vorpommern spielte sie in der Inszenierung von Mozarts Oper Die Zauberflöte mit. Wie schon bei anderen Produktionen der Opernale wird es keinen festen Spielort geben, sondern die Oper an verschiedenen Standorten aufgeführt werden. Das Wirtshaus zum fliegenden Dodo dürfte vielleicht der thematisch passendste von allen Spielstätten sein, denn von dem in diesem Jahr eröffneten Restaurant im Vogelpark Marlow ist es nicht allzu weit bis zu dem Gehege, in dem die Schreiadler des beliebten Tierparks zu finden sind. Bei den anderen Spielorten braucht man deutlich mehr Glück, um neben dem künstlichen Schreiadler auf der Bühne auch einen echten Greifvogel sehen zu können. Zumindest befinden sie sich in den Regionen, in denen der Schreiadler beheimatet ist. Insgesamt dreizehn Vorstellungen sind angesetzt, angefangen vom Vogelpark Marlow bis hin zum Pommerschen Landesmuseum in Greifswald, getreu dem Motto der Opernale, die Kultur aufs Land zu bringen.
Termine
Samstag 10. August 2019 |
19:00 Uhr Vogelpark Marlow |
Freitag 16. August 2019 |
20:00 Uhr Pferdestall Kirchdorf |
Samstag 17. August 2019 |
20:00 Uhr St.-Jürgen-Kirche Starkow |
Sonntag 18. August 2019 |
17:00 Uhr Klanghaus am See Klein Jasedow |
Freitag 23. August 2019 |
20:00 Uhr St.-Andreas-Kirche Nehringen |
Samstag 24. August 2019 |
20:00 Uhr Peter-Tucholski-Haus Loitz |
Sonntag 25. August 2019 |
15:00 Uhr SOS-Dorfgemeinschaft Hohenwieden Grimmen |
Freitag 30. August 2019 |
20:00 Uhr Schloss Kummerow / Gartensaal |
Samstag 31. August 2019 |
20:00 Uhr Landhof Trittelwitz |
Sonntag 01. September 2019 |
16:00 Uhr Burg Klempenow |
Donnerstag 05. September 2019 |
20:00 Uhr Gutshaus Stolpe an der Peene / Haferscheune |
Freitag 06. September 2019 |
20:00 Uhr Klosterkirche Ribnitz-Damgarten |
Samstag 07. September 2019 |
20:00 Uhr Pommersches Landesmuseum Greifswald |