100% Barrierefreiheit für das Theater? – Ein Kommentar

potenzieller Kassenbereich für das Theater Greifswald
potenzieller Kassenbereich für das Theater Greifswald

Ein kontroverses Theaterstück mehrmals zu sehen ist auch deswegen interessant, weil man die Reaktionen des Publikums beobachten kann, welche jedes Mal anders ausfallen kann. Diesmal war es kein Theaterstück, welches mich bewog, gleich zweimal die Stadthalle zu besuchen, um derselben Präsentation zu folgen, welche zumindest das Greifswalder Theater als Thema hatte, genauer gesagt die Sanierung des maroden Theatergebäudes. Erst als Pressegespräch, dann als bürgerschaftliche Informationsveranstaltung, an denen Mitglieder des Finanzausschusses, des Bauausschusses, des Bildungsausschusses und die Fraktionsvorsitzenden teilnahmen. Die Fragen bei beiden Veranstaltungen hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können, auf der zweiten Veranstaltung waren zumindest die Schwerpunkte der Fraktionen deutlich erkennbar. Ich sollte mit meiner Aussage recht behalten, dass kein einziges Bürgerschaftsmitglied die Fragen stellen würde, welche ich zuvor beim Pressetermin stelle und deren Antworten höchst unbefriedigend ausfielen. Übrigens nicht nur für mich, sondern auch diejenigen welche diese Problematik betrifft.

Interessanterweise wurden ihnen in der derzeitigen Legislaturperiode einige der Fragen gestellt, übrigens von der Franka Pannwitz von der AG Barrierefreie Stadt, welche ihr Recht als Einwohnerin nutzte, und am Anfang einer Bürgerschaftssitzung dieses Problem thematisiere. Hängengeblieben ist bei den Mitgliedern der Bürgerschaft nichts, die Fragen und Anregungen der Einwohner sind wohl eher eine Pflichtkür, bei der man weghören kann. Meistens stimmt das auch, in diesem Fall hätte man aber besser hinhören sollen, denn man verliert ganz schnell an Glaubwürdigkeit, wenn man sagt, dass man sich für bestimmte Dinge einsetzt und dann dieses nicht macht. Jedenfalls war das Thema Barrierefreiheit kein Thema für die anwesenden Bürgerschaftsmitglieder. Auch nicht für Rita Duschek von den Linken, deren Namen man auf der Seite des Greifswalder Behindertenbeauftragten Benny Bernhardt wiederfindet, der eine Liste mit den Mitgliedern der AG Barrierefreie Stadt verlinkt. Diese ist zwar aus dem Jahre 2018, eine neuere Mitgliederliste findet man auch im Ratsinformationssystem nicht, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass nicht mal sie das Thema Barrierefreiheit thematisierte.

Für sie waren die vor Jahren gespendeten Stühle wichtiger, von denen auch einer ihren Namen trägt. Wenn ihre jahrelange Mitarbeit in der Arbeitsgruppe ihren Fokus auf das Thema Barrierefreiheit nicht gestärkt hat, wie soll es erst bei den anderen Mitgliedern möglich sein? Ob die Kantine öffentlich sein wird war vielleicht noch die banalste Farbe, es waren eher die Kosten der Sanierung, die von einem Bürgerschaftsmitglied mit den Schulen und Kitas in die Waagschale geworfen wurden. Andere Fragen, die auch die Presse stellte, die ja nicht so tief in den Details wie ein gewöhnliches Bürgerschaftsmitglied steckt und stecken muss, wie beispielsweise nach der Bespielung während der Sanierungsarbeiten, tauchten auch auf, Fragen nach einer energetischen Sanierung und Parkplätzen waren für einige Bürgerschaftsmitglieder interessanter. Aber an die von Franka Pannwitz gestellte Frage erinnerte sich niemand! Sie stellte seinerzeit die Frage, ob geplant ist, bei einer Sanierung die Anzahl der Rollstuhlfahrerplätze zu erhöhen. Eine Antwort gab es damals nicht, während des Pressetermins eine verneinende.

Es ist zwar vorgesehen, einen Fahrstuhl zu installieren, mit dem man die oberen Geschosse erreichen kann, das war es aber schon was die verbesserte Barrierefreiheit des Theatergebäudes betrifft. Der Zuschauersaal bleibt nach dem derzeitigen Planungsstand unangetastet. Die Stühle werden ausgebaut, überholt und nach der Sanierung wieder an ihre vorherigen Standorte platziert. Da aufgrund der Belüftungsanlage keine andere Positionierung möglich sein soll, wird es auch in Zukunft im Parkett keine versetzten Zuschauerreihen und damit einen besseren Blick auf die Bühne geben. Dass einige Bürgerschaftsmitglieder die Kommunalverfassung nicht kennen beziehungsweise dagegen verstoßen, ist bekannt, die meisten Bürgerschaftsmitglieder dürften aber auch das BGG nicht kennen, geschweige gelesen haben. Mal ein kurzer Blick hinein:

Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG)
§ 1 Ziel und Verantwortung der Träger öffentlicher Gewalt
(1) Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Dabei wird ihren besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen.
(1a) Träger öffentlicher Gewalt im Sinne dieses Gesetzes sind
1. Dienststellen und sonstige Einrichtungen der Bundesverwaltung einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, bundesunmittelbaren Anstalten und bundesunmittelbaren Stiftungen des öffentlichen Rechts,
2. Beliehene, die unter der Aufsicht des Bundes stehen, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, und
3. sonstige Bundesorgane, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.
(2) Die Träger der öffentlichen Gewalt sollen im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs die in Absatz 1 genannten Ziele aktiv fördern und bei der Planung von Maßnahmen beachten. Das Gleiche gilt für Landesverwaltungen, einschließlich der landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, soweit sie Bundesrecht ausführen.
(3) Die Träger öffentlicher Gewalt sollen darauf hinwirken, dass Einrichtungen, Vereinigungen und juristische Personen des Privatrechts, an denen die Träger öffentlicher Gewalt unmittelbar oder mittelbar ganz oder überwiegend beteiligt sind, die Ziele dieses Gesetzes in angemessener Weise berücksichtigen. Gewähren Träger öffentlicher Gewalt Zuwendungen nach § 23 der Bundeshaushaltsordnung als institutionelle Förderungen, so sollen sie durch Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder vertragliche Vereinbarung sicherstellen, dass die institutionellen Zuwendungsempfängerinnen und -empfänger die Grundzüge dieses Gesetzes anwenden. Aus der Nebenbestimmung zum Zuwendungsbescheid oder der vertraglichen Vereinbarung muss hervorgehen, welche Vorschriften anzuwenden sind. Die Sätze 2 und 3 gelten auch für den Fall, dass Stellen außerhalb der Bundesverwaltung mit Bundesmitteln im Wege der Zuweisung institutionell gefördert werden. Weitergehende Vorschriften bleiben von den Sätzen 1 bis 4 unberührt.
(4) Die Auslandsvertretungen des Bundes berücksichtigen die Ziele dieses Gesetzes im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben.

Die Antwort des Architekturbüros war, dass es von Nutzerseite bis jetzt keine entsprechenden Wünsche gab. Eine Antwort mit der man sich nicht ernsthaft zufriedengeben sollte, denn nicht nur das BGG spricht dagegen. Der vorgebliche Nichtbedarf ist von Seiten des Theaters hausgemacht, denn anstatt Bedürfnisse beim potentiellen Publikum zu wecken, zeigen sie den Ist-Zustand auf und interpretieren das als mangelnde Nachfrage. Das ist in etwa so, als ob man sagen würde, dass man keine Feuerlöscher braucht, weil es eh nicht brennt. Die stehen nur unnütz herum und nehmen Platz weg. Dass mehr potentielle Rollstuhlfahrerplätze die meiste Zeit nur dafür da sind, eine potentielle Nachfrage befriedigen zu können und ansonsten nutzlos sind, sind wie die Feuerlöscher, über die man froh ist, wenn man sie braucht. Über die Existenz der Rollstuhlfahrerplätze erfährt man online nur im Saalplan, der als PDF hinterlegt ist. Auf den Seiten mit den Angaben der Theaterkassen, kein Hinweis darauf, dass man Rollstuhlfahrerplatze bitte rechtzeitig bestellen soll.

An der Theaterkasse werden die Rollstuhlfahrerplätze zwar vorrangig an diese vergeben, wie der zukünftige Intendant Ralf Dörnen bei einer kurzen Nachfrage bestätigte und die Fragen in einer Sitzung thematisieren will. leider sind die Informationen, die man ihm gegeben hat nicht hundertprozentig korrekt, denn die Nachfrage nach Rollstuhlfahrerplätzen wird künstlich heruntergerechnet. Vor ein paar Jahren war ich nachmittags an der Kasse, wo vor mir eine junge Frau für sich und ihren im Rollstuhl sitzenden Begleiter Theaterkarten für den Abend kaufen wollte und mit den Worten abgewiesen wurde, dass sie sich dafür rechtzeitig hätte melden müssen. (Diese Kassenkraft arbeitet glücklicherweise schon einige Jahre nicht mehr für das Theater.) Es waren noch vier Stunden bis zur Vorstellung und die Plätze waren während der Vorstellung unbesetzt. Für die Statistik gab es keine Nachfrage, in der Realität zwei massiv unzufriedene Kunden. Auch die betagte Professorin (Name der Redaktion bekannt, welche sich mit Hilfe ihres Begleiters anders beholfen hatte, taucht in den Zahlen nicht auf. Und, und, und …

Da die Theaterkarten auch online verkauft werden, ist es kein Problem, schon Monate im Voraus die Karten für die Plätze zu erwerben, welche für die Rollstühle vorgesehen sind. Das Resultat ist auch hier eine nicht vorhandene Nachfrage für Rollstuhlfahrerplätze. Nun könnte man anführen, dass man die Karten zur Not ja auch online kaufen kann. Könnte man, wenn man dabei ignoriert, dass man bestimmte Tickets wie beispielsweise die Abos nur an der Theaterkasse gibt. Auch die Theater-Card und die durch sie vergünstigen Eintrittskarten erhält man nur an der Theaterkasse. In der Stadtinformation und im Internet bekommt man nur die Tickets zum Normalpreis, was also keine wirkliche Alternative zur Theaterkasse darstellt und einer selbstbestimmten Lebensführung widerspricht. Die Theatersanierung wird mindestens 43 Millionen Euro kosten, viel Geld, wenn bestimmte Leute ohne fremde Hilfe bestimmte Theaterkarten nicht erwerben können.

Daher sollte man auch den Kassenbereich entsprechend anpassend, und eine Möglichkeit einplanen, zumindest einen Kassenzugang von außen zu ermöglichen. Da wegen dem Denkmalschutz die Treppen des Haupteingangs erhalten werden sollen, muss man von der anderen Seite heran, auf der sich schon jetzt eine fast ebenerdige Tür befindet. Da die Universitäts- und Hansestadt Greifswald als Träger des Theater Vorpommern den Zielen des BGG verpflichtet ist, ist es egal, ob die bisherige Theaterführung bislang keine Notwendigkeit dafür sah, die Barrierefreiheit über das von ihr gefühlte Maß zu erhöhen. Es sind die Menschen aus Greifswald welche die Sanierung bezahlen müssen. In diesem Fall sollten dann auch diejenigen Leute, welche mit ihren Steuergeldern die nicht allzu niedrige Rechnung bezahlen müssen, auch bei der Bestellung mitreden können. Und diese sollte dann doch 100% Barrierefreiheit beinhalten!